Über die "zwei Synagogen in der Altstadt" von Darmstadt hatte ich ja schon einmal geschrieben. Als Ergänzung dazu will ich hier einen Text aus dem Darmstädter Tagblatt vom 20. Februar 1926 wiedergeben, der die "Geschichte der Juden in Darmstadt" darstellt. Einige Jahreszahlen jedoch widersprechen etwas meinen Erkenntnissen, ich habe die Stellen im Text fett markiert.
Am 21. Februar d. J. begeht die Israelitische Religionsgemeinde (Hauptgemeinde) das Jubiläum des 50jährigen Bestehens ihrer Synagoge in der Friedrichstraße. Aus diesem Anlaß seien einige Punkte aus einer größeren Materialsammlung über die Geschichte der Juden in Darmstadt nachstehend mitgeteilt. Die israelitische Gemeinde in Darmstadt kann nicht auf ein so ehrwürdiges Alter zurückblicken, wie ihre Schwesterngemeinden Worms und Mainz, mit ihrer rund zweitausendjährigen Vergangenheit. Die Geschichte der Juden in Darmstadt läßt sich urkundlich bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen. Das Hessische Staatsarchiv enthält den Ausweisungsbefehl für elf Juden aus dem Jahre 1585, die unter Landgraf Georg I. aus Darmstadt vertrieben wurden. Während des 17. Jahrhunderts litten die Juden in Darmstadt schwer, sowohl unter den drückenden Bestimmungen der von Landgraf Georg II. 1629 erlassenen und von Landgraf Ernst Ludwig erneuerten Judenordnung, wie unter den wiederholten kriegerischen Einfällen und Brandschatzungen durch die Franzosen. Diese Leiden werden durch einen Regierungserlaß vom 28. Oktober 1697 ausdrücklich bestätigt. Die Angelegenheiten der Juden wurden auf den sogenannten Judenlandtagen geregelt (am 18. Juli 1687 tagte beispielsweise einer in Eberstadt). Die Landtage fanden mit Genehmigung der Regierung statt, die Vertreter dazu abordnete. Auf dem Judenlandtag in Eberstadt werden beispielsweise 2 Gulden für den Herrn Zentgrafen und Unterschultheiß für ihre Mühewaltung ausgeworfen. Später führte ein Kommissarius als Vertreter der Regierung den Vorsitz. Mit Ausgang des 17. Jahrhunderts scheint das Gemeindeleben stärker eingesetzt zu haben. Landgraf Ernst Ludwig erließ eine Verfügung, die den Juden gestattet, sich zu gemeinsamen Gottesdiensten "in einem von der offenen Straße entlegenen Hause eines Juden, das von unseren Kirchen, Pfarr-, Schul- und Rathäusern abgelegen ist, und zwar nur in einer Stube, Kammer oder auf einem Boden zu versammeln". Demzufolge wird dem Löw Isaks Sohn die Erlaubnis erteilt, die Judenschule (das heißt Synagoge) in das Haus des Juden Benedikt, und zwar auf dessen "alten Heuboden" verlegen zu dürfen (14. Okt. 1714, bzw. 15. Februar 1715). Im Jahre 1735 ward die Generalanweisung erteilt, in dem Hof des in der Kleinen Ochsengasse gelegenen Kassel Meyerschen Hauses, eine Synagoge errichten zu dürfen; sie wurde am 7. Juni 1737 eingeweiht und blieb bis zum Jahre 1876 in Benutzung, in dem die neue Synagoge Friedrichstraße 2 am 23. Februar eingeweiht wurde. Bei Niederlegung des Häuserblocks in der Kleinen Ochsengasse Anfang dieses Jahrhunderts wurde die alte Synagoge niedergerissen. In der Kleinen Ochsengasse, unweit der oben erwähnten Synagoge, befand sich auch die der Israelitischen Religionsgesellschaft, die sich Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von der Hauptgemeinde abzweigte und ihre Synagoge 1853 einweihte. Die Trennung erfolgte hauptsächlich wegen Einführung einer Orgel und verschiedener dem hebräischen Gottesdienst eingefügter Gebete in deutscher Sprache und dergleichen in der Synagoge der Hauptgemeinde. Ein Rest der ehemaligen Synagoge der Religionsgesellschaft ist noch heute an dem Hause Kleine Ochsengasse 14, Ecke Landgraf-Georg-Straße, sichtbar. Später befand sich die Synagoge der Religionsgesellschaft in der Bleichstraße; dort wurde an Stelle der alten, die jetzige neue Synagoge 1906 eingeweiht. Der Friedhof der Darmstädter Juden befand sich seit 1709 in Bessungen; er bildet den alten Teil des heute noch in Benutzung befindlichen Friedhofes der Isrgelitischen Religionsgemeinde. Die Zahl der Juden in Darmstadt war während des ganzen 18. Jahrhunderts sehr gering. Im Jahre 1783 werden 38 Steuerzahler erwähnt. Bemerkenswert ist, daß die bereits im 16. und 17. Jahrhundert begonnenen Versuche, die Juden zum Christentum zu bekehren, im 18. Jahrhundert wieder aufgenommen wurden. Im 16. Jahrhundert waren sie in Hessen gezwungen, Bekehrungspredigten in Kirchen zu hören, im 17. Jahrhundert wählte man aus Rücksicht für die Juden statt der Kirchen Rathäuser. Im 18. Jahrhundert schlug man einen anderen Weg ein. Der Hofdiakonus Philipp Fresenius in Darmstadt gründete im Jahre 1736 Proselytenanstalten, die über Hessen hinaus bekannt und angeblich erfolgreich tätig waren. — Mit Beginn des 19. Jahrhunderts zogen freiere Anschauungen auch in Hessen ein, sie äußerten sich in der Abschaffung des Leibzolles für die Juden, 1820 in der Verleihung des Staatsbürgerrechts und 1823 in der Proklamierung des Edikts zur Regelung des Jugendunterrichts der Israeliten, das ihnen den Besuch einer öffentlichen, auch von Christen besuchten, oder einer jüdischen Schule zur Pflicht machte. 1784 wurde der erste jüdische Schüler "Veidel Joseph, natione Judaeus" in das Fürstliche Pädagog in Darmstadt aufgenommen. Der erste jüdische Abiturient war der Sohn des Schutzjuden Linz 1794. Der Name Abraham Jacob Linz kommt als erster in der Darmstädter Generalmatrikel als „Bürger” vor (17. Febr. 1796). Linz erhielt das Bürgerrecht als Uhrmacher. Die Aufhebung des auf den Juden lastenden Drucks hatte, wie überall in Deutschland, so auch in Darmstadt, ein Aufblühen der jüdischen Gemeinde zur Folge. Während Darmstadt 1771 etwa 200 jüdische Seelen, 1815 393 zählte, betrug die Zahl der Juden 1840 schon 545 und Ende des 19. Jahrhunderts rund 2000.
Eine wichtige Quelle für die Familiengeschichte der Darmstädter Juden ist das im Jahre 1717 von dem Schreiber (Sofes) Nathan Nathe Aschkenasi begonnene und bis 1863 fortgeführte Memorbuch (Gedenkbuch, von dem lateinischen memoria), die Namen von annähernd 300 Verstorbenen enthaltend, die bei der Seelenfeier im Gottesdienste verlesen wurden. Nach Nennung der Namen hervorragender jüdischer Gelehrter und Märtyrer des Mittelalters folgt als ältester Eintrag eines Darmstädter Juden der Name Menachem, Sohn des Naftali, gen. Manes Darmstadt gest. 15. April 1684. Der nächste Eintrag lautet Rabbiner Elikum Getschlik Deutz (wohl um 1700 verst.). Unter den folgenden Namen finden sich etliche, die auch heute noch in Darmstadt vorkommen (die den Namen beigefügte Zahl bedeutet das Todesjahr): Schwab 1752, Trier 1752, Wolfskehl 1763, Naftali Herz Hachenburg 1772, Bessunger 1772, Callmann 1772. Das Memorbuch schließt mit der Erwähnung von Angehörigen der Familie Wolfskehl. Mirjam Wolfskehl 1855 und Joseph Wolfskehl 1863. Die in dem Memorbuch erwähnten Namen empfangen eine wertvolle Ergänzung durch die von Landgraf Ernst Ludwig 1717 eingeführten Judentabellen, von denen verschiedene, u. a. eine aus dem Jahre 1776 stammende, sich in meinem Besitz befindet und 29 Namen enthält.